Teil 15: „Wohin mit Maria?“
Der Name St. Mariens wird in unseren Breiten beharrlich als katholisch empfunden. Warum eigentlich? Nicht wenige Kirchen unserer sächsischen Landeskirche tragen den Namen der Gottesmutter: Darunter die „Ev.-Luth. Stadtkirche St. Marien Pirna“, der „Dom St. Marien Zwickau“, sogar eine der berühmtesten lutherischen Kirchen Deutschlands, die »Frauenkirche«. Und die ist bestimmt nicht nach den Frauen Dresdens benannt, sondern nach »Unserer Lieben Frau Maria«. Maria empfinden wir wohl deshalb als »katholisch«, weil sie im Katholizismus seit der Gegenreformation und im 19. Jahrhundert eine sehr zentrale Rolle für die katholische Identität erhalten hat, auch und gerade in Unterscheidung zum Protestantismus. Und dabei greift das, was die römisch-katholische Kirche (RKK) zum christlichen Glaubenssatz erklärt hat, weit über das biblische Zeugnis hinaus: Maria sei ohne Erbsünde empfangen, d. h. Maria sei als einzige der Menschen ohne Erbsünde geboren, weil sie nur so den Christus in sich hätte empfangen können. Maria sei nach ihrem Tod leiblich in den Himmel aufgenommen worden, wie sonst nur Jesus (Mariä Himmelfahrt). Auch die römisch-katholische Glaubenspraxis geht weit über die Bibel hinaus, wenn Maria als »Himmelskönigin« verehrt wird, wenn sie als Mittlerin zu Jesus bezeichnet oder im Gebet als Fürsprecherin angerufen wird. Dabei haben wir das Zeugnis des Neuen Testamentes, dass es nur einen Mittler gibt: Christus. Diese Glaubenspraxis und Lehre der RKK, die uns schon irgendwie fremd ist, kommt zustande, weil die RKK der Tradition und der christlichen Überlieferung einen höheren Wert einräumt, als es bei uns Evangelischen üblich ist.
Wir Evangelischen betonen vielmehr die zentrale Rolle von Christus und achten darauf, dass sie nicht verwischt wird. Aber damit sind wir Maria noch längst nicht los! Nicht nur, dass unsere Kirchen ihren Namen tragen, sondern das Wichtigste ist: Maria ist eine zentrale biblische Frau, die schon im Neuen Testament eine große theologische Bedeutung erhält. In den Evangelien nach Matthäus und Lukas ist Maria die Jungfrau, die durch das Wirken des Heiligen Geistes den Gottessohn zur Welt bringt. »Gottesmutter« sei sie, so hat es das, auch für uns Lutheraner gültige, Konzil von Ephesus (431 n. Chr.) definiert. Das will sagen: Sie hat als ganz »normale« Frau Gott in sich getragen, denn Christus ist »wahrer Gott und wahrer Mensch«. Christus ist nur zu verstehen, wenn wir beides in den Blick nehmen: Sein Menschsein durch seine Geburt aus der Frau Maria und seine ewige göttliche Herkunft aus dem allmächtigen Vater. „Gott ist er aus des Vaters Natur vor der Welt geboren, Mensch ist er aus der Mutter Natur in der Welt geboren“, so bekennt das Athanasianische Glaubensbekenntnis, das dritte altkirchliche Bekenntnis, das wir als Lutheraner mit den traditionellen Kirchen in der Ökumene bekennen.
Maria ist im Neuen Testament auch Sinnbild für das Volk Israel, aus dem der Messias hervorgegangen ist. Sie ist deswegen auch Sinnbild für das Gottesvolk der Kirche: In der Apokalypse des Johannes wird Maria als himmlische Frau geschaut, die gleichzeitig die verfolgte und triumphierende Kirche symbolisiert (Offb 12, 1-2). Maria ist also schon in der Bibel eine besondere Symbolgestalt.
Für Martin Luther war klar: Maria kann keine selbständige Gnaden vermittelnde und miterlösende Aufgabe in der Heilsgeschichte haben. Doch ist damit nicht jede Funktion Marias in der Heilsgeschichte bestritten. Für ihn war „die zarte Gottesmutter“, wie er Maria gern nannte, verehrt und geliebt hatte, das leuchtende Vorbild eines christlichen Lebens – ganz aus Gottes Gnade und ganz aus dem Glauben. Deshalb konnte er in seiner Predigt zu Heiligabend 1531 sprechen: „Wer kann sie genug loben, wie sie würdig ist!?“ Um gleich hinzuzufügen: „Aber wenn du sie so lobst, sollst du den Sohn nicht schmälern.“
Die »immerwährende Jungfrauschaft Marias« übrigens bekennt die lutherische Kirche in der Konkordienformel (SD VIII) zusammen mit der RKK.
Schon diese kleinen Andeutungen zeigen, dass wir Evangelischen das Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben: In der Abwehr einer übersteigerten Marienverehrung des späten Mittelalters haben wir sogar das biblische Zeugnis für Maria weitgehend vergessen. Die Übertreibung „der Anderen“, hat dazu geführt, dass wir sie einfach „den Anderen“ überlassen haben. Wir haben dadurch aber viel verloren! Und es wäre an der Zeit, die Grenze an der richtigen Stelle zu ziehen. Es wäre an der Zeit für eine evangelische Besinnung in der Frage „Wohin mit Maria?“
Wie gut, dass unser evangelisches Perikopenbuch uns durch das Kirchenjahr führt. Darin begegnet uns Maria im Advent, in der Weihnachtszeit, in der Passionszeit, an Ostern. Sogar besondere Marientage weist es aus unter „weitere Feste und Gedenktage“: Lichtmess (2. Februar), Tag der Ankündigung der Geburt des Herrn (25. März), die Begegnung zwischen Maria und Elisabeth – Heimsuchung (02. Juli).
Mit der Mutter des Herrn bekommen wir es zu tun, wo sie uns in Texten der Heiligen Schrift begegnet, besonders dort, wo diese im Gottesdienst verlesen werden und in einer Fülle von Chorälen wiederhallen. Sie erinnern uns nicht nur an eine große biblische Frau, sondern vor allem an das Wunder der Menschwerdung Gottes.
Wie schön, dass bei uns immer wieder das Magnificat erklingt, wenn wir zum Abendgebet mittwochs zusammenkommen, der Lobgesang Mariens (Lukas 1, 46-55). Wir rufen oder beten Maria nicht an, aber wir singen gemeinsam mit Maria ihr Lied, dass Gott uns in Christus befreit hat!
Wie bewegend, dass auch nun das alte Altarbild in unserem Kirchenraum in der Wernesgrüner Kirche zu bestaunen ist. Eine Maria, die ihren gekreuzigten Sohn in den Arm nimmt. Maria, als Sinnbild für das Leben der Christen, für die Kirche: Wie sie sollen wir das Opfer des Gottessohnes willig annehmen. Uns bewusst machen, welchen Preis dieses Opfer gekostet hat. Im besonderen Maße wird uns dies zuteil, wenn wir das Heilige Mahl vom Altar empfangen.
Wohin also mit der Maria? In unser Herz und vor unsere Augen. Bei alledem können wir entdecken: Maria trennt uns nicht von den Katholiken oder Orthodoxen, sondern verbindet uns unzertrennlich mit ihnen.